Großes Potenzial

Der größte Energieschlucker ist der Wärmesektor. Hier sind umfassende Transformationen für die Energiewende noch wichtiger als in den Bereichen Strom und Verkehr. Entscheidend für die Wärmewende: Eine höhere Effizienz von Gebäuden und die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung. Die nötigen Technologien stehen zur Verfügung, was fehlt, ist der Wille.

Ohne Wärmewende kann die Energiewende nicht gelingen: Der Wärmesektor verschluckt die meiste Endenergie, sein Anteil liegt in Deutschland, in der Europäischen Union (EU) und weltweit gleichermaßen bei rund der Hälfte des Gesamtverbrauchs. Dazu gehören das Heizen und Kühlen von Gebäuden – seien es Wohnhäuser, Gewerbeimmobilien oder Industriebauten –, die Warmwasserbereitung und die Prozesswärme, die für technische Verfahren benötigt wird. Der mit Abstand größte Anteil des Wärmebedarfs wird noch immer mit fossilen Brennstoffen wie Kohle, Öl und Erdgas gedeckt. Weltweit stammten 2017 nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) nur 10 Prozent aus erneuerbaren Energien. In der EU waren es im gleichen Jahr 16 Prozent und in Deutschland gut 13 Prozent. Der Sektor verfügt somit über großes Potenzial, Treibhausgasemissionen einzusparen.

Gehandelt werden muss schon deshalb, weil sich eine deutliche Zunahme des Bedarfs abzeichnet: Die Weltbevölkerung wächst, die Industrialisierung schreitet voran, der Wohlstand in bisher noch weniger entwickelten Ländern nimmt zu und die Erde wird wärmer. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) schätzt beispielsweise, dass allein der Energiebedarf für Kühlschränke, Klimaanlagen und Wärmepumpen Ende dieses Jahrhunderts 33 Mal so hoch sein wird wie heute.

Dem gegenüber stehen nationale und internationale Klimaschutzziele, die eine Zunahme von Treibhausgasemissionen, egal, in welchem Sektor, nicht zulassen – im Gegenteil. In der EU sollen beispielsweise bis Mitte des Jahrhunderts fast keine Emissionen mehr von Gebäuden ausgehen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Bundesregierung in ihrem 2016 beschlossenen Klimaschutzplan 2050 festgelegt, dass der Gebäudebereich bis 2030 zwei Drittel weniger Treibhausgase ausstoßen soll als im Referenzjahr 1990. 2018 waren knapp 44 Prozent erreicht. Seit 2012 nimmt der Anteil erneuerbarer Energien zur Deckung des Wärmebedarfs aber nicht mehr zu.

Größter Hebel für die Energiewende liegt in den Gebäuden

Experten sind sich daher einig, dass im Wärmesektor deutlich mehr passieren muss als bisher, um die angestrebte Dekarbonisierung des gesamten Wirtschaftssystems zu erreichen, und dass dafür zwei Ansatzpunkte ausschlaggebend sind: Die Energieeffizienz muss gesteigert und die CO 2 -Intensität verringert werden. Der Thinktank Agora Energiewende fordert daher von der Bundesregierung, im geplanten Gebäudeenergiegesetz festzulegen, dass neue Gebäude künftig nur noch in klimafreundlicher Weise errichtet werden dürfen und Sanierungen von Bestandsgebäuden die gleichen Energiestandards erfüllen müssen, die heute für Neubauten gelten. Aktuell befindet sich der Referentenentwurf des Gebäudeenergiegesetzes in der Ressortabstimmung, bis zum Ende des Jahres soll das Gesetzgebungsvorhaben abgeschlossen sein.

Da der Gebäudebestand den Löwenanteil ausmacht, liegt dort der größte Hebel. Um die Ziele zu erreichen, müsste möglichst flächendeckend energetisch saniert werden – was aber derzeit nicht der Fall ist. Alexandra Langenheld, Projektleiterin bei Agora Energiewende, spricht sich für eine stärkere Förderung aus. Der Staat setzt zwar finanzielle Anreize durch die KfW-Programme für energieeffizientes Sanieren, über die es günstige Kredite und Zuschüsse gibt. Diese haben aber keinen Boom ausgelöst.

Union und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die energetische Gebäudesanierung auch steuerlich zu fördern. Der Punkt ist aber noch nicht umgesetzt. Langenheld hält das für dringend erforderlich: „Wir schlagen vor, dass Hausbesitzerinnen und -besitzer energetische Sanierungen ab 2020 steuerlich über Gutschriften geltend machen können. Besonders hochwertige Sanierungen können dabei auch zusätzlich gefördert werden.“ Außerdem müssten Zuschüsse für den Einbau neuer Ölheizungen gestrichen werden – eine Forderung, die seit Langem im Raum steht, da derartige Subventionen Anreize in die falsche Richtung setzen.

Eine andere Steuerungsmöglichkeit besteht darin, die Vermietung oder den Verkauf von Gebäuden mit schlechter Energiebilanz zu verbieten. Laut der Internationalen Partnerschaft für die Zusammenarbeit im Bereich der Energieeffizienz (IPEEC) gehört Großbritannien zu den Vorreitern dieses Ansatzes: Seit April 2018 dürfen dort keine Wohn- und Gewerbeimmobilien, die in die beiden untersten Effizienzklassen fallen, neu vermietet werden, ohne sie vorher energetisch zu sanieren. In Singapur, wo heizen kein Thema ist, aber kühlen umso mehr, müssen Besitzer gewerblicher Immobilien von mehr als 500 Quadratmetern seit 2014 bestimmte Standards einhalten, wenn sie eine Klimaanlage einbauen oder austauschen.

Zu den staatlichen Instrumenten gehört auch die CO 2 -Bepreisung, die derzeit in immer mehr Ländern eingeführt beziehungsweise ausgeweitet wird. Die meisten Staaten setzen dazu auf Steuerlösungen, in Deutschland ist außerdem im Gespräch, den Emissionshandel auf die Sektoren Verkehr und Gebäude auszuweiten. Prominent diskutiert wird in dem Zusammenhang eine sozialverträgliche Ausgestaltung der CO 2 -Preissysteme. Der Rat der Wirtschaftsweisen hatte der Bundesregierung in einem Gutachten vorgeschlagen, das Geld entweder pauschal oder durch eine Senkung der Stromsteuern an die Bürger zurückzugeben.

Während staatliche oder gar internationale Regelungen oft lange auf sich warten lassen, passieren viele Fortschritte auf untergeordneten Ebenen. Die IPEEC betont, dass Kommunen viele innovative Maßnahmen ergriffen und ihre Ambitionen oft größer seien als auf nationaler Ebene. Als ein Beispiel führt sie den „Greener, Greater Buildings Plan“ der Stadt New York an, der Vorgaben für die größten Gebäude der Stadt macht, die für knapp die Hälfte des Energieverbrauchs der Metropole verantwortlich sind.

Die Vielfalt an vorhandenen Technologien nutzen

Beispielsweise müssen alle Nicht-Wohngebäude bis 2025 ihre Beleuchtung nach bestimmten Vorgaben umstellen. Allein dieser Teilbereich macht 18 Prozent des Energieverbrauchs und der Treibhausgasemissionen von New Yorks Gebäudesektor aus.

Die zweite wichtige Säule der Wärmewende neben der Erhöhung der Energieeffizienz ist die Umstellung auf CO 2 -neutrale Heiztechnologien. Diese sind vielfältig vorhanden: Sie reichen von Wärmepumpen über Wärmenetze und solarthermische Anlagen bis zu Power-to-Gas und zur Nutzung von Abwärme. Laut Agora Energiewende müssen alle in großem Stil eingesetzt werden. „Die Zeit des ‚Entweder-oder‘ ist vorbei“, betont Langenheld. „Nur, wenn bei allen Gebäude-Klimaschutztechnologien eine Vervielfachung der Installationszahlen stattfindet, sind die Wärmewendeziele erreichbar.“ Die Voraussetzung für Technologieoffenheit sei wiederum Energieeffizienz: „Eine hinreichende Dämmung macht den Einsatz der gesamten Palette an Wärmetechnologien erst möglich.“

Dagegen warnt der Bund Deutscher Architekten (BDA) vor einem einseitigen Fokus auf Effizienz, die vor allem mit immer stärkerer Dämmung erreicht werden soll. Günter Pfeifer, Mitautor eines Positionspapiers für klimagerechte Architektur, das der BDA im Juni veröffentlicht hat, fordert „eine grundsätzlich andere Herangehensweise, um ein Gebäude CO 2 -neutral bewirtschaften zu können“. Wenn klimaneutral geheizt werde, zum Beispiel mit durch Ökostrom betriebenen Luft-Luft-Wärmepumpen, komme es auf die Dämmung nicht mehr in erster Linie an.

Der BDA spricht sich stattdessen für einen „intelligenten Einsatz von Architektur“ aus. Pfeifer verweist in dem Zusammenhang auf traditionelle Bauweisen auf der ganzen Welt, die an die jeweiligen klimatischen und anderen lokalen Bedingungen angepasst sind. Letztlich müsse alles auf die CO 2 -Bilanz eines Gebäudes ausgerichtet werden. „Das wäre ein Paradigmenwechsel“, so Pfeifer.

Langenheld zufolge sollten Gebäude zudem im Verbund betrachtet werden. Dafür brauche es Wärmenetze, in die klimafreundliche Heizenergie eingespeist wird, insbesondere in Innenstädten und hochverdichteten Ballungsräumen. Denn hier stießen Wärmepumpen oder andere CO 2 -arme Einzelheizungslösungen an ihre Grenzen. „Wärmenetze hingegen eröffnen die Möglichkeit, erneuerbare Wärme und industrielle Abwärme aus unterschiedlichen Quellen einzusammeln und sie zum Verbraucher zu transportieren.“ Bisher würden nur etwa 14 Prozent der bestehenden Gebäude in Deutschland mit Fernwärme versorgt, hier gebe es noch viel Luft nach oben.

Auch die Heat Roadmap Europe (HRE) sieht viel Potenzial in Wärmenetzen. Auf die in der HRE gelisteten 14 größten EU-Länder entfallen 90 Prozent des Wärmebedarfs der Staatengemeinschaft. Bis Mitte des Jahrhunderts kann mindestens die Hälfte des Wärmebedarfs durch Wärmenetze in diesen Ländern gedeckt werden – aktuell sind es laut HRE nur 12 Prozent. Dänemark, das nicht zu den HRE-Ländern gehört, ist weltweiter Vorreiter in diesem Bereich: 60 Prozent der Haushalte werden dort über Fernwärmesysteme versorgt, der Großteil davon aus Kraftwerken, die erneuerbare Energien nutzen.

Systeme der Zukunft müssen verschiedene Sektoren vernetzen

Positive Beispiele gibt es auch in kleinerem Stil: In Friedrichsdorf im Taunus entsteht beispielsweise zurzeit eine Ökosiedlung mit Ein- und Mehrfamilienhäusern, einer Seniorenwohnanlage, Kindertagesstätte sowie kleinen Gewerbeflächen. Sie soll mit einem Nahwärmenetz versorgt werden, deren Herzstück ein unterirdischer Eisspeicher ist. Dem Wasser entzieht eine große Wärmepumpe im Winter Energie, die zum Heizen und für Warmwasser in allen Gebäuden der Siedlung verwendet wird. So friert der Speicher allmählich zu. Im Sommer taut er wieder auf. Da die Erdwärme dafür allein nicht ausreicht, werden zusätzlich Solarabsorber und Photovoltaik-Solarthermie-Systeme eingesetzt. Außerdem gibt es zwei Gas-Blockheizkraftwerke, die – ergänzt durch Photovoltaik – den Strombedarf der Siedlung decken und gleichzeitig Wärme erzeugen. Spitzenlasten im Winter deckt ein Gasbrennwertkessel ab.

Wie bei der Kraft-Wärme-Kopplung in Friedrichsdorf liegt die Zukunft in Systemen, die verschiedene Sektoren miteinander vernetzen. Die Infrastrukturen und Prozesse für Strom, Wärme, Verkehr und Industrie sind dabei nicht mehr strikt voneinander getrennt, sondern gehen ineinander über. Die Industrie stellt allerdings besondere Herausforderungen für die Energiewende dar: „Nach heutigem Stand des Wissens gibt es bestimmte Anwendungen, wie Hochtemperatur-Prozesswärme in der Industrie, die nur schwer direktelektrisch mit erneuerbaren Energien zu dekarbonisieren sind. Hierfür werden wir synthetische Brennstoffe benötigen“, sagt Langenheld. Insofern seien Power-to-Gas- und Power-to-Liquid-Verfahren, mit denen CO 2 -neutrale Heiz- und Treibstoffe auf Basis erneuerbarer Energien gewonnen werden, Schlüsseltechnologien für den Klimaschutz. Sie sollten aufgrund ihrer schlechten Wirkungsgrade und hohen Kosten allerdings nur dort zum Einsatz kommen, wo Strom nicht direkt genutzt werden kann. Bisher gibt es für Power-to-Gas lediglich Pilotanlagen im Megawatt-Maßstab. Für den Aufbau einer – später auch global agierenden – Industrie sind laut Langenheld bis 2030 in Deutschland 10 Gigawatt Elektrolyseur-Leistung erforderlich. „Ohne ein marktwirtschaftlich ausgerichtetes Förderinstrument wird das aber nicht erreicht werden“, meint Langenheld und fordert, schnellstmöglich die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Einen einfacheren Beitrag zur Energiewende kann die Industrie durch Wärmerückgewinnung leisten. Dafür gibt es verschiedene Lösungen – je nachdem, ob es sich etwa um Metallverarbeitung, eine Bäckerei oder eine Trocknungsanlage handelt. Auch die Abwärme aus industriellen Prozessen, ebenso wie aus Müllverbrennungsanlagen oder Kraftwerken, bietet viel ungenutztes Potenzial. Dieser Bereich wurde nach Einschätzung der Autoren der Heat Roadmap Europe in der Vergangenheit politisch vernachlässigt, obwohl er ein Schlüssel zu einem effizienten Wärmesektor sei. Handlungsbedarf ist also auch hier offensichtlich. Und der Wille zur Veränderung dringend nötig.