In Myanmar hat das Militär die Macht an sich gerissen. Doch die Zivilgesellschaft ist offenkundig nicht bereit, das zu akzeptieren. Die Proteste sind gewaltig: Zehntausende gehen täglich im ganzen Land auf die Straße – trotz Repressionen, Gewalt, Festnahmen und Strafandrohungen.
„Ihr habt euch mit der falschen Generation angelegt!“ Das ist die Message der jungen Menschen an die Generäle. Sie sind viele, sie sind gut vernetzt – auch mit anderen Protestbewegungen wie denen in Thailand und Hongkong – und sie haben Freiheiten genossen, die sie sich nicht wieder nehmen lassen wollen. Diese Generation besteht darauf, von den Politikern regiert zu werden, die sie demokratisch gewählt hat.
Für 20-Jährige im heutigen Myanmar ist die Militärdiktatur eine Kindheitserinnerung. Das Land war seit zehn Jahren auf dem Weg der Demokratisierung. 2012 zog die National League of Democracy (NLD), die Partei der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, ins Parlament ein, seit 2015 hat sie dort die absolute Mehrheit. Das Militär war allerdings nie weg: Ein Viertel der Sitze ist für die Generäle reserviert, sie können damit jegliches Gesetz blockieren. Die Armee stellte außerdem mehrere Minister.
Trotzdem hatte Suu Kyi, die wegen einer für sie maßgeschneiderten Verfassungsklausel selbst nicht Präsidentin werden kann, viele Fäden in der Hand. Sie galt als De-facto-Regierungschefin, ihr Parteifreund und Vertrauter Präsident Win Myint als ihr Platzhalter. Nun sitzen beide in Haft. Die neuen selbsternannten Machthaber haben auch hunderte weitere Menschen festgenommen, darunter Politiker, Journalisten, Studenten und einen australischen Berater Suu Kyis.
Suu Kyis Image hat in den vergangenen Jahren – besonders im Westen – gelitten, weil sie mit den Generälen kooperierte und vor allem, weil sie die Verbrechen an der Minderheit der Rohingya weder verhinderte noch verurteilte (siehe meinen Kommentar in E+Z/D+C e-Paper 2017/02, Debatte). Bei sehr vielen Menschen in Myanmar genießt sie aber weiterhin großen Rückhalt, davon zeugen unter anderem die vielen Plakate, mit denen Demonstranten ihre Freilassung fordern.
Es geht hier jedoch nicht in erster Linie um Suu Kyi, und die heutige Generation der Protestierenden in Myanmar braucht auch keine Ikone, um für ihre Rechte zu kämpfen. Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft begehren dagegen auf, dass eine demokratisch gewählte Regierung nicht antreten durfte: Mönche und Ärztinnen, Ingenieure und Studentinnen, Mitarbeiter der Bahn und der Müllabfuhr. Die NLD hat die Parlamentswahlen am 8. November haushoch gewonnen, die Partei der Armee, die USDP, eine herbe Niederlage eingefahren. Die Militärs argumentieren mit Wahlbetrug, um den Putsch zu begründen. Er fand just an dem Tag statt, als das neu gewählte Parlament zum ersten Mal zusammenkommen sollte.
Vermutlich hatten die Generäle schlicht Angst, dass ihnen die Reste der Macht, die sie noch in den Händen hielten, entgleiten würden – und die Privilegien und Geldeinnahmen, die damit zusammenhängen. Mit einem derartigen Widerstand hatten sie aber wohl kaum gerechnet. Die Welt ist eine komplett andere als 1988, als es die letzten Massenproteste in Myanmar gab. Damals erschossen Soldaten tausende friedliche Demonstranten – und kamen ungestraft davon. Im Februar 2021 erschoss ein Polizist eine 19-jährige Demonstrantin – und die ganze Welt kennt ihren Namen und ihr Gesicht. Fotos und Videos von dem Moment, in dem Mya Thwate Thwate Khaing eine Kugel in den Kopf bekam, zirkulierten kurz darauf in den sozialen Medien.
Die Armee verliere zunehmend die Geduld, „aber es wird schwierig sein, ein Blutbad vor laufenden Smartphone-Kameras zu veranstalten“, schrieb Aung Zaw, der Chefredakteur der unabhängigen Zeitung The Irrawaddy, am 16. Februar. Der 52-Jährige hatte an den Protesten 1988 als junger Student teilgenommen und dafür mit Haft und Folter bezahlt. 1993 gründete er im thailändischen Exil The Irrawaddy. „Wenn das Militär, wie in der Vergangenheit, einen Großangriff startet, schaufelt es sich sein eigenes Grab.“
Die Hoffnung ist, dass ein Blutbad ausbleibt. Doch sicher ist das nicht. Bestimmt haben die Demonstranten Angst davor. Doch im Moment scheint eine andere Angst noch größer zu sein: Wenn die Menschen jetzt klein beigeben, sind Demokratie und Freiheit auf Jahre verloren.